Viele der Häuser sind über 100 Jahre alt. Sie erscheinen manchmal etwas spröde, bieten aber viele Möglichkeiten für die Entwicklung bezahlbaren guten Wohnens. Dem Quartier zwischen Wilhelmplatz und Westring, Eckernförder Straße und Kronshagener Weg hat der Volksmund früh seinen Namen gegeben: „Französisches Viertel“ oder auch „Franzosen-Viertel“. Die elsässischen Straßenbezeichnungen prägen sich eben gut ein. Die Weißenburg-, die Wörth-, die Spichern-, die Gravelotte- und die Metzstraße ziehen sich durch diesen kleinen Stadtteil. Unser Französisches Viertel hat aber nicht nur viel Geschichte, es hat eine ebenso große Zukunft.
Ende des 19. Jahrhunderts boomte die Stadt, immer mehr Menschen zogen nach Kiel, suchten Arbeit vor allem im Schiffbau und in den industriellen Zulieferbetrieben. Wohnraum fehlte, es kam zu unwürdigen und unzumutbaren Lebenssituationen. Der Kieler Rat erschloss nun neue Grundstücke und das Stadtgebiet erweiterte sich ständig – so auch nördlich des Wilhelmplatzes, der 1893/94 anstelle der dortigen Kleingärten entstanden war. Lange Jahre diente der Wilhelmplatz als Paradeplatz, Fußballfeld, Jahrmarkt und Exerzierplatz. Bis heute wird er als Park- oder Festplatz genutzt. Nördlich davon bildete sich damals schnell ein neuer Stadtteil. Die kaisertreuen Honoratioren im Rathaus entschieden gut 25 Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 dieses Ereignis zu würdigen und gaben den Straßen entsprechende Namen. Etliche Orte im Elsass dienten dazu. Die Bezeichnungen signalisierten gleich mit: Die Region hatte deutsch zu sein, was der wechselhaften elsässischen Geschichte allerdings nur zum Teil entsprach. 1895 erhielt in Erinnerung an die Schlacht bei Wörth diese Straße ihren Namen, ebenso die Weißenburg- und die zentrale Metzstraße, die in mehreren Abschnitten ausgebaut wurde. Letztere erinnert an die Aufgabe der französischen Festung Metz. Zwischen 1895 und 1900 entstanden im Viertel die typischen fünfgeschossigen Wohnblocks aus rotem Stein mit zwei- bis dreiräumigen Mietwohnungen. 1900 folgten der Bau der Spichern- und der Gravelottestraße: große Häuser mit kleinen Vorgärten, die sich schon der dekorativen Baulinie jenseits des Cacabellenwegs (heute Westring) anschlossen. Die Wohnungen im Französischen Viertel waren ideal für die Arbeiterfamilien. Der Weg zum Werk war zumutbar, die Kinder konnten untergebracht werden, eine kleine Küche stand zur Verfügung und die Sanitäranlagen fanden sich nicht mehr im Hof, sondern auf halber Treppe. Und manchmal – um die geringe Einkünfte zu erhöhen – vermietete man das Bett an sogenannte „Tagesschläfer“, an Menschen, die nachts arbeiten mussten. Handwerksbetriebe und kleine Geschäfte öffneten, meist in den unteren Etagen der Häuser und im Hinterhof angesiedelt.
Im Zweiten Weltkrieg wurden große Teile des Französischen Viertels durch Bombardierungen zerstört. In der Metz- und der Wörthstraße verschwanden beispielsweise ganze Häuserkomplexe und rissen Leerstellen in die Gebäudelinie. Ende der Vierzigerjahre entschied sich die nun demokratisch gewählte Ratsversammlung für einen vorsichtigen Wiederaufbau. Man verzichtete auf hochgeschossige Bauten und etablierte kleinere Wohn- und Geschäftshäuser, die zwar praktikabel waren und schnell gebaut werden konnten, aber das typische Aussehen des Viertels kaum widerspiegelten. Und langsam begann sich die Gesellschaft und damit das Quartier zu wandeln. Die Arbeiterfamilien wurden weniger, die Bevölkerungsstruktur wechselte, andere Mietverhältnisse entstanden. Spätestens in den Siebzigerjahren änderte sich sichtbar die Bewohnerschaft. Mit dem Wachsen der nahen Universität zogen nun auch Studierende ins Viertel und es entstand ein vielseitiger, ja bunter Stadtteil, der zudem nah am Stadtzentrum liegt. Wohngemeinschaften und Singles, Familien und Ältere zogen ein und leben heute Seite an Seite dort. Doch nun wird es Zeit, sich Gedanken über die Zukunft des Viertels zu machen. Das spürt man, wenn man durch die Straßen geht.
Stadtteile sollten kreativ sein. Noch bleiben die Besonder- und die Schönheiten des schönen Französischen Viertels fast verborgen. Der Stadtteil muss geweckt werden und seinen „Dornröschen-Schlaf“ beenden. Ich meine: Geschäfte und Betriebe müssen bleiben, die großen Innenhöfe könnten kreativer genutzt werden. Mehr Denkmalschutz, mehr Kultur, mehr Lebensqualität, mehr Grün sind unbedingt anzustreben. Und die Mieten müssen bezahlbar sein. Hier ist viel möglich. Eines aber gilt: Der Quartierscharakter des Französischen Viertels, seine Geschlossenheit und damit seine Identität müssen erhalten bleiben. Dies klug zusammenzubringen und abzugleichen, darin liegen große Chancen der qualitativen Aufwertung dieses besonderen Kieler Ortes. Denn das Viertel hat nicht nur viel Flair, es hat auch Zukunft!